In einem hippen Viertel der Großstadt, wo die Cafés mit Sojamilch überflossen und Fahrräder die Straßen beherrschten, fand jeden Dienstagabend ein Treffen statt, das auf den ersten Blick wie ein gemütliches Beisammensein aussah. Es handelte sich um die „Selbsthilfegruppe für Progressive Belange und Identitätsfindung“. Die Teilnehmer dieser Gruppe – eine bunte Mischung aus Männern und Frauen, die alle etwas verloren wirkten – hatten sich zum Ziel gesetzt, ihre Unzufriedenheit mit der Welt und sich selbst in einem sicheren Raum zu teilen.

Paul, ein Mann mit modisch zerzaustem Haar und einer fair gehandelten Baumwolltasche, trat an diesem Dienstag zum ersten Mal durch die Tür der Gruppe. Er hatte von der „Selbsthilfegruppe“ beim Biomarkt gehört, wo man ihm statt der gewöhnlichen Quinoa einen neuen „intersektionalen Superfood-Mix“ empfohlen hatte. „Hier wirst du verstanden“, hatte ihm die Verkäuferin mit einem sanften Lächeln und einem Blick voller Mitgefühl versprochen.

„Willkommen, Genosse“, sagte der Gruppenleiter, ein dünner Mann mit einem T-Shirt, auf dem stand „Feminismus ist für alle“. Die anderen nickten Paul zu, einige mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln, andere mit einem wissenden Lächeln.

„Was führt dich heute zu uns?“, fragte die Gruppenleiterin – es stellte sich heraus, dass es ein Kollektiv aus drei Personen war, die sich diese Rolle teilten –, während sie einen handgemachten Notizblock zurechtlegten.

Paul, der sich im Licht der veganen Duftkerzen etwas unsicher fühlte, begann zögerlich: „Also, es geht um die ganze Ungerechtigkeit in der Welt… und diese ganzen kapitalistischen Strukturen. Es macht mich einfach fertig, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die ständig auf Kosten anderer lebt.“

Eine Person mit bunten Haaren und einem Nasenring murmelte zustimmend: „Das kennen wir alle, Bruder*in! Hier bist du unter Gleichgesinnten!“

Ermutigt fuhr Paul fort: „Ja, und dann diese ganzen komplizierten Sachen, die sie heutzutage machen. Kritisches Weißsein, veganes Leben… Letztens habe ich einen Cappuccino mit normaler Milch bestellt, und die Barista hat mich angesehen, als hätte ich eine Todsünde begangen.“

Ein kollektives Seufzen ging durch die Runde. „Es ist nicht mehr unsere Welt“, sagte jemand mit einem tiefen, melancholischen Unterton.

Die Gruppenleiter*innen, die sich als Alex, Kim und Sam vorstellten, tauschten Blicke und nickten einander zu. „Aber genau deswegen sind wir hier!“, sagte Alex. „Wir müssen uns wieder auf unsere Ideale besinnen. Auf unsere Verantwortung! Deshalb werden wir heute darüber sprechen, wie wir unsere Privilegien am besten reflektieren können, ohne sie jemals zu nutzen.“

Paul fühlte sich plötzlich wie zu Hause. „Endlich jemand, der versteht!“, dachte er sich. Doch dann fuhr Kim fort: „Aber Vorsicht, Genoss*innen! Wir müssen aufpassen, nicht in die Falle der sogenannten ‚toxischen Positivität‘ zu tappen. Man hat uns eingebläut, dass wir das Gute in allem sehen sollen. Aber was, wenn das Gute nur eine Erfindung des neoliberalen Systems ist, um uns ruhig zu halten?“

Ein Mensch in Batikklamotten, der in einer Ecke saß und offensichtlich das Wort „Güte“ für eine Erfindung der Unterdrückung hielt, nickte heftig. „Ja, genau! Was, wenn das Lächeln gegen das Wohl der revolutionären Bewegung ist?“

Paul war ein wenig verwirrt. „Aber… ich dachte, es geht darum, positiv zu sein?“

Sam lächelte geduldig. „Natürlich, aber nur in dem Sinne, dass wir die richtige Negativität fördern. Wir sind hier, um uns gegenseitig zu stärken und die richtigen Reflexionen zu reflektieren.“

Paul verstand. Die Gruppe war nicht nur eine Selbsthilfegruppe, sondern auch eine Art moralisches Fitnessstudio, in dem die richtigen Gedanken und Gefühle nach den neuesten wissenschaftlichen Theorien geformt wurden. Die Teilnehmer tauschten Tipps aus, wie man am besten seine sozialen Medien von „privilegierten Inhalten“ säuberte, welche Begriffe man verwenden sollte, um „inklusivistische“ Diskussionen zu führen, und welche Konsumgüter man am besten boykottierte, um nicht das System zu unterstützen.

Am Ende des Abends fühlte sich Paul erleichtert, als er die Tür wieder öffnete. Er hatte das Gefühl, dass er ein wenig sicherer im Umgang mit der „kapitalistischen Realität“ war. Mit neuem Mut und den besten Rezepten für vegane Falafel in der Tasche machte er sich auf den Heimweg.

Doch als er zuhause ankam und sein Mitbewohner ihm freudestrahlend mitteilte, dass er ab sofort nur noch konventionelle Milch kaufen würde, spürte Paul ein leises Unbehagen. Vielleicht, dachte er, sollte er doch noch einmal zur Selbsthilfegruppe gehen. Vielleicht gab es da doch noch einiges zu lernen – über die Realität und darüber, wie man am besten mit ihr umging.